Gerhard Branstner
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Was ist links? oder: "What's left?

Die Frage wird öfter abgelehnt, als sie gestellt wird. Und die Ablehner halten die Ablehnung für besonders originell. Ihr häufigstes Argument ist, dass die Kategorien links und rechts überholt seien. Wenn aber mal wer eine Antwort wagt, ist sie meistens in ihrer Dummheit so abschreckend, dass man die Frage lieber nicht gestellt hätte.

Die Frage ist tatsächlich nicht zu beantworten, solange man auf die bürgerliche Demagogie der Überbewertung der Freiheit hereinfällt. In Wahrheit steht die Gleichheit höher, sie ist die edlere, humanistischere, fundamentalere Kategorie. Ohne Gleichheit ist Freiheit unmöglich, ihre Behauptung zynisch. Umso mehr, umso weniger sie die sozialen Inhalte, wie sie immerhin annähernd von Präsident Roosevelt benannt worden waren, einschließt. Die Sozialisten, in ihrem bis heute dauernden Kardinalfehler befangen, gegenüber den bürgerlichen Wertsetzungen in der Defensive zu sein (von der Mode bis zur Ökonomie), die Sozialisten sind, statt auf der Gleichheit zu bestehen, auf die Freiheit hereingefallen. (Und mit ihr auf die Demokratie.) Sie haben die bürgerliche Verkehrung übernommen.

Der Millionär und der Obdachlose sind nach bürgerlichem Gesetz frei. Wie frei? Gleich frei? Der Obdachlose darf die Universität besuchen. Woher hat der die Hochschulreife? Er darf Präsident der vereinigten Staaten von Nordamerika werden. Woher nimmt er die Millionen Dollar für die Wahlkampfkosten? Der Obdachlose darf die Bayreuther Festspiele besuchen. Es sei denn, er stinkt zu sehr. Obdachlose stinken gewöhnlich ja fürchterlich. Aber vielleicht will er gar nicht nach Bayreuth. Was einer nicht will, das muss man ihm ja auch nicht verbieten. So offenbart sich uns die erhabene Größe der bürgerlichen Freiheit: Wer nicht nach Bayreuth will, darf stinken. Natürlich darf er auch in den weltweit jährlich 30 Kriegen verrecken. Oder wie jährlich zweihunderttausend Umwelttoter in der Dritten Welt an vergiftetem Wasser. Oder wie einige Zehnmillionen an Hunger.

Verlässlichkeit ist die schönste Eigenschaft des Menschen. Hat schon mal wer erlebt, dass sie der Obdachlose und der Millionär aufeinander verlassen können? Dann gäbe es keine Obdachlosen mehr. Der Obdachlose und der Millionär stehen für die unterschiedlichsten Varianten sozialer Ungleichheit. Und je differenzierter die Ungleichheit ist, desto differenzierter ist die Unfreiheit.

Vor dem Gesetz, heißt es, sind alle gleich. Das ist eine Lüge. Die Ungleichen sind vor dem gleichen Gesetz ungleich. Der Reiche erhält für das gleiche Delikt eine geringere Strafe als der Arme. Das belegen die Statistiken aller kapitalistischen Länder. Und das belegt Australien. Die Armen Englands, schon durch ihre soziale Lage kriminalisiert, wurden damals wegen der geringsten Delikte zur Deportation verurteilt. Australien verdankt seine Existenz als bewohnter Kontingent der Ungleichheit. Der sozialen und juristischen.

Die Gleichheit fußt auf der Vergesellschaftung der Produktionsmittel. Das Gemeineigentum an den Produktionsmittel ist das Fundament wirklicher Freiheit. Das erklärt, weshalb beispielsweise in der DDR trotz ihres Mangels an demokratischen Freiheiten auf vielen Gebieten mehr Freiheiten als in der Bundesrepublik zu finden waren. (Die Chancengleichheit, die Wahl des Arbeitsplatzes, des Bildungsweges, der ärztlichen Versorgung, des Urlaubszeitpunktes und dergleichen mehr.) Das selbst die unvollkommene Gleichheit in ihrer oft behinderten Nutzung diese Freiheiten hervorbrachte, beweist zur Genüge, dass die Gleichheit die Basis aller Freiheit ist.

Die Forderung nach sozialer Gerechtigkeit ist nur der schüchterne, ängstliche, inkonsequente Ausdruck der Notwendigkeit sozialer Gleichheit, der Gleichheit des Eigentums an den Produktionsmitteln.

Und die Forderung nach Erhalt unserer natürlichen Umwelt. Ist das keine linke Forderung? Aber ja! Jedenfalls, wenn sie ernstzunehmen ist, wenn sie das Übel an der Wurzel packt. Und die Wurzel des Übels ist das kapitalistische Eigentum. Es ist direkt und indirekt der Ausgang der Umweltzerstörung. Natürlich ist links eine verwickelte Eigenschaft, und am Rande ist sie wie alles am Rande ziemlich ausgefranzt. Daher soll man nicht dogmatisch oder beckmesserirsch herumfuhrwerken, aber auch nicht windelweich oder ausweichend. Was schadet es, wenn wir wissen, was links ist? Und links ist, ob direkt oder indirekt, was und wer die Gleichheit des Menschen anstrebt. Nicht die Gleichmacherei, sondern die wirkliche Chancengleichheit.

Müssen wir denn in jeder Frage auf den Kapitalismus hereinfallen? Darauf, dass der Sozialismus eine gescheiterte Utopie sei, sind doch schon genug Linke hereingefallen und scheuen sich, den Sozialismus als die einzige Rettung vor dem Kapitalismus zu bezeichnen, jedenfalls nicht jetzt, wo er doch gerade gescheitert ist. Zu Marxens Zeiten war er noch nicht einmal das, also hätte Marx gefälligst den Mund nicht aufmachen sollen. Das zwei mal zwei vier ist, stimmt zwar, aber doch nicht schon jetzt.


  • Autor: Gerhard Branstner
    Erstveröffentlichung: Kalaschnikow - Das Politmagazin
    Ausgabe 10, Heft 1/98
    Quelle: © Philosophischer Salon e.V., Berlin
    www.roter-salon.info